Nachbarschaft

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Die Kooperation Industriestrasse lädt bereits zum dritten Mal zum «Dialog» ein. Nach «Aussenräumen» beim ersten und «Nachhaltigkeit» beim zweiten Austauschtreffen geht es an diesem Dienstag um «Nachbarschaft, Zusammenleben und Gemeinschaft», drei zentrale Begriffe bei der Gestaltung einer lebendigen Überbauung. Doch wie viel Gemeinschaft ist gewünscht und wo verläuft die Grenze zwischen Privat und Öffentlich? Planer, künftige Bewohnerinnen und Verantwortliche der Genossenschaften diskutierten über Bedürfnisse und Vorstellungen.

Die Begrüssung in der weissen Halle des Sinnlicht, dem Licht- und Lampenverarbeiter auf dem heutigen Industriestrassenareal macht Edina Kurjakovic, Geschäftsleiterin der Kooperation Industriestrasse. 75 Besucherinnen interessierten sich für den Austausch, das sind rund 20 mehr als noch bei der zweiten und rund 30 mehr als bei der ersten Durchführung. Das Interesse am Kooperationsprojekt und dessen konkreten Ausgestaltung steigt.

«Wir befinden uns im Jahr des Dialogs»,

sagte denn auch Kurjakovic mit Blick auf die Bauphasen. Bereits im nächsten Jahr werden Kostenvoranschlag, Gestaltungsplan und das Baugesuch unter Mitwirkung von Arbeitsgruppen ausgearbeitet, bevor 2021 der Baustart erfolgen soll. Das heisst: Noch werden Haltungen und Ideen ausgetauscht und diskutiert, ab nächstem Jahr nimmt die Umsetzung konkrete Formen an. Schlussendliches Ziel der Dialoganlässe ist die Ausarbeitung eines Handbuchs für das Zusammenleben im Areal.

Fünf Mal fünf Minuten

Der erste Programmpunkt bildet eine Vortragsreihe, bei der fünf Referenten oder Referentinnengruppen je fünf Minuten Redezeit erhielten. Vier davon sind Planende und ein Historiker, dazu gab es – wie bereits bei den vorigen Dialogen – eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, welche die Sicht der jüngsten Generation vertritt. Die Experten stellten sich der Frage: «Welche Architektur befruchtet das nachbarschaftliche Zusammenleben?», während die Kinder darlegten, was sie überhaupt unter Gemeinschaft und Zusammenleben verstehen.

Die ersten fünf Minuten spricht Christoph Schläppi. Der Architekturhistorikergehört zum Team des Siegerprojekts Städtebau/Aussenraum «mon oncle». Passend als Einstieg beantwortete er die Frage nach gesellschaftsfördernder Architektur in allgemeiner Manier. Er sagt: «Die Stadt bildet die Gesellschaft ab.» Und unsere Zeit erkenne die Vorteile der Stadt und ihre Dichte, gleichzeitig müsse man öffentliche Räume so gestalten, dass man einander aus dem Weg gehen kann. Seine Quintessenz nach fünf Minuten: Bewohner*innen einer Stadt brauchen ein gesundes Verhältnis von Nähe und Distanz, aber auch Orte der Interaktion, Konfrontation, Toleranz und die Möglichkeit, das «Zuhause sein zu leben».

Dialog 4
Team toblergmür präsentiert ihren Ansatz für die Industriestrasse


Die Schüler*innen Irina, Isabel, Marcel, Philomena und Rochel von «KinderPlanenStadt» stellten anschliessend ihre Vorstellungen von Gemeinschaft und Zusammenleben vor. Sie walten dabei als Vertretende einer Demographie, die im Publikum nicht anwesend ist. Ja, Kinder machen Lärm! Dafür fordern sie Toleranz ein, bieten aber gleichzeitig Hand zum Dialog. Doch die Kinder haben sich vorgängig auch Gedanken zum Zusammenleben, Wohnformen und der Umgebung gemacht: Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft werden gewünscht, die Wohngemeinschaft für Jung und Alt propagiert und ein Kennenlernen der nahen Gassenküche erbeten. In unterhaltsamen Kurz-Sketches werden die angesprochenen Punkte prägnant fürs Publikum verdeutlicht.

Dialog 3
Expertinnen von KinderPlanenStadt spielen den Alltag der neuen Überbauung vor.

Julie Studer vom Büro Rolf Mühlethaler stellt danach die zugrundeliegende Idee des «mon oncle»-Projekts vor. Die Idee stammt aus der gleichnamigen französischen Filmkomödie von Jacques Tati aus dem Jahr 1958. Das im Film dargestellte Haus soll für die Gestaltung der öffentlichen Räume des Industriestrassengebiets Vorbild sein: Begehbar, offen, einladend –Begegnung soll auf verschiedenen Ebenen ermöglicht werden.

Christian Maeder von ro.ma. roeoesli & maeder Architekten Luzern betont in seinem Vortrag den Luxus vorhandener räumlicher und finanzieller Ressourcen, der in der Schweiz herrscht. Er zieht den Vergleich zu New York, wo sich teilweise «das Wohnzimmer auf dem Bürgersteig befindet», die Sphären von Öffentlichkeit und Privatem also aus Mangel an Platz verschmelzen. In der Industriestrasse überlege man sich nun: In welchem Mass ist es zulässig, als Planer die Bewohner*innen zur Nutzung der gemeinschaftlichen Strukturen zu bringen. Konkret könnte das bedeuten: Man plant keinen Balkon für die einzelnen Wohnungen, damit die Dachterrasse mehr genützt wird.

Zum Schluss dieser Kurzvorträge betonen Samuel Tobler und Gabriel Gmür von toblergmür Architekten Luzern und Zürich die Wichtigkeit des öffentlichen Raums für die Planung der Gebäude selbst. In der Industriestrasse wollen die jungen Architekten die Genossenschaften zur Zusammen-arbeit bringen, eben wörtlich eine «Kooperation Industriestrasse» schaffen – und zwar über den Aussenraum: Ein gemeinsamer Waschraum für alle Bewohnerinnen und Bewohner, Gemeinschafts-räume, Kollektivflächen. Dies ist nicht nur ökonomischer, es verwandelt einzelne, unabhängige Gebäude in eine zusammenhängende Siedlung.

Speed Dating

Nach den Vorträgen wird umdisponiert, das Publikum begibt sich in den hinteren Bereich der Halle und setzt sich an lange Tische im hinteren Teil der Halle. Was folgt, ist der partizipative Teil, «Speed Dating» heisst die Aufgabe: Sechs Minuten, um sich gegenseitig kennenzulernen und sich Gedanken zum heutigen Thema Nachbarschaft zu machen. Jeder Tisch erhält einen Themenschwerpunkt: Welche Bedürfnisse werden ans eigene Wohnumfeld gestellt? Was bedeutet Toleranz im (Wohn-)Alltag? Was ist eine «lebendige Überbauung» – und wann wird es zu lebendig? Und was bedeutet «Durchmischung»?

Der verhaltene Beginn – man hört ein gemurmeltes «Müssen wir jetzt einfach über unsere Bedürfnisse sprechen?» – weicht schnell angeregten Diskussionen. Vier Runden lang wird diskutiert, verschiedene Genossenschafter*innen treffen aufeinander, so wie es später in der Überbauung der Fall sein wird. Und nach jeder Runde wird es schwieriger, die Gespräche abzubrechen und einen Platz weiter zu rücken. Ja, man will Lebendigkeit! Aber da ist auch der Wunsch nach Rückzug. Durchmischung, bitte! Aber nicht bloss bezogen auf Alter oder Lebens-situation, sondern auch auf soziale Schichten – die Industriestrasse soll keine privilegierte Siedlung werden. Die Themen der einzelnen Tische verschmelzen, gegen Ende hält sich kaum noch wer an die vorgegebenen Stichworte, doch das Ziel ist erreicht: Die potenziellen Mieterinnen und Mieter tauschen sich aus. Die von Edina Kurjakovic ausgerufene Pause wird denn erst auch kaum gehört, zu ausgelassen sind die Gespräche.

So werden die Ausführungen in der Pause fortgesetzt. Man fragt sich, wie ausgelastet Gemeinschaftsräume effektiv sein werden, wer die Initiative für partizipative Projekte übernehmen soll oder wie man neue, vielleicht nicht-genossenschaftliche, Mieterinnen und Mieter in die beschlossenen Grundsätze einführen kann. Gemeinschaft – ein Thema, das bewegt.

Dialog 4
In kurzer Zeit mit vielen Menschen in Austausch kommen: Speed-Dating

«Wir wollen nicht die Privatsphäre abschaffen»

Nach der Pause werden die gewonnen Erkenntnisse ausgetauscht. Die Expertinnen nehmen wieder Platz, zu ihnen gesellt sich Rosa Schmid, eine Publikumsvertreterin. Die zentrale Frage: Welche Erwartungen haben Bewohner*innen an die Planenden? Vertreterin Rosa Schmid tritt für offene, geteilte Orte ein. Warum nicht eine offene Küche? Wie in ihrer Kindheit auf dem Land, erzählt sie, wo im grossen Bauernhaus «alles ein und aus» ging. Die Planenden nahmen es zur Kenntnis, doch Historiker Christoph Schläppi merkt auch an, dass es bei aller Nähe eben auch Rückzugsorte braucht: «Wir wollen natürlich nicht die Privatsphäre abschaffen!»

Dieses Votum entspricht auch einer Wortmeldung aus dem Publikum.

Eine Familie brauche – bei aller Gemeinschaftlichkeit – auch Rückzugsorte, privater Raum, wo man alleine sei. Zahlbar müsse die Siedlung bleiben, so eine zweite Meldung, denn – wie dies auch Architekt Christian Maeder zuvor erläutert hatte: Öffentliche, nicht-vermietbare Räume müssen irgendwie querfinanziert werden.

Ein wichtiger Einwand kommt von Vertreterinnen und Vertreter der heutigen Industriestrasse: Gemeinsamkeit und Partizipation in den Strukturen sind gut, doch sollten auch pragmatische Fragen des Zusammenlebens frühzeitig thematisiert werden. Wie lösen wir Konflikte? Wie schaffen wir Kompromisse? Ein Appell an die Kooperation, bei der Planung nahe bei den Bewohner*innen zu bleiben.

Abwesend in der Abschlussdiskussion sind die Kinder von «KinderPlanenStadt». Doch ihre zuvor ausgearbeiteten Ideen werden von Cla Büchi, Projektleiter bei der Kooperation Industriestrasse, verlesen: Kinder brauchen Räume, in denen sie sich treffen und aufhalten können – aussen wie innen. In diesen Räumen entstehen Freundschaften untereinander und über die Freundschaft der Kinder entstehen Verbindungen zwischen den Erwachsenen, man lernt sich kennen.

«Das Areal bietet mehr Potenzial für Freundschaften als ein Einfamilienhausquartier» liest Büchi aus dem Fazit. Und das sollte die Industriestrasse am Ende sein – ein freundschaftlicher Ort.