Klimaschutz in der Industriestrasse

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Die Kooperation Industriestrasse organisiert im Rahmen der Neuüberbauung des Areals Industriestrasse drei Dialoganlässe. Interessierte, Beteiligte und Spezialistinnen diskutierten heute Abend beim «Dialog #2» über das Klima und die 2000-Watt-Gesellschaft.

Die Kooperation Industriestrasse besteht aus fünf Wohnbaugenossenschaften, die sich 2014 zusammengeschlossen haben. Gerade weil die Kooperation so vielfältig aufgestellt ist, braucht es Dialogveranstaltungen, um etwas Einzigartiges, Innovatives und Gemeinschaftsfähiges zu schaffen, lässt die Geschäftsleiterin Edina Kurjakovic bei der Begrüssung verlauten. Nach der Dialogphase, die 2018 und 2019 durchgeführt wird, beginnt 2021 die erste Bauetappe; 2023 ist der erste Bezug möglich und es beginnt die zweite Bauetappe; 2025 ist geplant, die Überbauung des Areals Industriestrasse abgeschlossen zu haben. Es soll ein autoarmes Areal werden, mit rund 400 Bewohnerinnen und Bewohnern, 130 Arbeitsplätzen, 80% Wohnraum und 20% Kultur- und Gewerberaum.

Heute Abend sind rund 55 Stellvertreterinnen und Stellvertreter aller Menschen und Institutionen, welche von der Überbauung betroffen sind, anwesend. Beim heutigen Dialog geht es unter anderem darum, wie Gebäude konzipiert und gebaut werden müssen, damit sie ökologisch verträglich und nachhaltig herauskommen. Hinzu kommen jedoch auch Fragen bezüglich des Zusammenlebens und der Nachbarschaft; was kann das Gebäude tun, damit ich möglichst klimaverträglich lebe? Was muss ich zusammen mit meinen Mitmenschen beachten? Braucht es Regelwerke? Wie viel Technologie ist vonnöten?

Kinder sollen mitbestimmen

Das Publikum erhält heute Abend zunächst Klimainputs aus drei verschiedenen Perspektiven: Von jungen Expertinnen und Experten, vom Architekturhistoriker Christoph Schläppi und von Patrick Ernst, Architekt und Energieingenieur.

Im Rahmen des Projektwettbewerbs «KinderPlanenStadt», konnte eine Schulklasse eigene Überbauungsideen entwickeln. Heute Abend ist eine junge Expertengruppe aus dieser Schulklasse anwesend. Philomena, Isabelle, Rochel, Marcel und Irina von der 6. Primarklasse des Schulhauses Wartegg zeigen ganz klar auf, wie der Klimawandel vom Menschen abhängig ist und mit der Industrialisierung begonnen hat.

Die Gletscher sind geschmolzen, es gab vor der Industrialisierung weniger Naturkatastrophen, Tierarten sterben aus. Was können wir tun? Mehr Bäume pflanzen, Solar- und Windenergie nutzen, lange Auto- oder Flugreisen vermeiden, das Licht immer ausschalten oder Energiesparlampen benutzen. Ihr Fazit: Kinder sollen mitbestimmen können!

Der Berner Architekturhistoriker Christoph Schläppi meint, die Jugendlichen hätten eigentlich schon alles gesagt, deshalb könnten wir nach Hause gehen. Er meint den Witz nicht unernst. Schläppi zeigt danach dennoch auf, dass der Mensch mit den Grenzen des Wachstums nicht umgehen kann. Innerhalb weniger Jahrhunderte habe sich die Menschheit explosiv vermehrt, weshalb der Anthropozän das Leben auf unserem Planeten massiv bedrohe. Wenn es so weitergeht, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen. Und dies führt zu Massenmigration, zu Krankheiten, Naturkatastrophen und Konflikten. Wir werden uns in der Zukunft noch viel intensiver mit Klimaveränderungen auseinandersetzen müssen. Gesellschaftspolitisch brisant werden diese Umstände, wenn man sieht, dass entwickelte Länder auf Kosten von Drittweltländer leben. 1982 hatte nach einer Grafik von Rudolf Strahm ein Schweizer 40 «Energiesklaven», heute sind es noch viel mehr. Wir als Verursacherinnen und Verursacher sind in der Pflicht.

Klimaschonend bauen

Der Kampf gegen den Klimawandel beginnt nicht erst bei Mobilität und Verbrauch, sondern bereits bei den Grundstrukturen der menschlichen Zivilisation: Bei Architektur und Gebäudephilosophie. Wir müssen uns bereits bei der Gestaltung und bei der Konstruktion Gedanken machen: Alles was wärme reflektiert und erzeugt (z.B. Stahl, Glas uws.) sollte vermieden werden. Wir müssen mehrheitlich mit Holz oder Lehm konstruieren und bauen. Der Betrieb des Gebäudes, das Kühlen und das Heizen, muss klimaschonend gedacht werden. Und, das Wichtigste: der Mensch muss gerne dort leben und die Häuser müssen mehrere Jahrhunderte genutzt werden können. Dicht, dauerhaft, reziklierbar. Das ist nachhaltige Architektur.

Christoph Schläppi erwähnt zum Schluss drei Faustregeln: 1. Es muss viele schattige Orte haben, 2. der Boden muss Wasser aufnehmen können, 3. Verdunstung muss gewährleistet sein. Zudem meint er, dass wir vor 500 Jahren besser über diese Massnahmen im Bilde waren als heute, im Zeitalter einer fortgeschrittenen Technologisierung. Wir müssen zu bewährten, einleuchtenden Massnahmen zurückgreifen.

Patrick Ernst stellt fest: Wenn wir die Klimaerwärmung bei 2 Grad stoppen können, können wir die Auswirkungen im Rahmen behalten; wenn es mehr wird, wird es ungemütlich, weil sich eine Eigendynamik entwickeln wird, die wir nicht mehr kontrollieren können. Eine 2000-Watt-Gesellschaft wäre bezüglich Klimaverträglichkeit und Gerechtigkeit eine ideale Lösung. 2000-Watt-Gesellschaft beinhalten ein energiepolitisches und ein klimapolitisches Ziel: Maximal 2000 Watt Primärenergieverbrauch und maximal eine Tonne CO2-Emission pro Person und Jahr.

Mehr Selbstverantwortung, weniger Technik

In Arbeitsgruppen widmen sich die Anwesenden nun zwei zentralen Fragen in Bezug auf die Überbauung Areal Industriestrasse:

1. Was kann ich für das Gebäude tun? 2. Was kann das Gebäude für mich tun?

Im Plenum danach überrascht, wie viel Einigkeit bei allen Beteiligten herrscht: Man möchte möglichst viel Kontrolle über seine Wohnsituation und möglichst wenig technische Kontrolle wie zum Beispiel automatische Rollläden, die sich nach der Wettersituation richten. Zunächst sollen die Wohnflächen baulich bereits in die richtige Bahnen gelenkt werden, damit die Menschen, die dort leben, gar nicht mehr viel falsch machen können. Nicht aber mit Technik, sondern ausschliesslich mittels baulichen Massnahmen. Bewohnerinnen und Bewohner der Industriestrasse wollen möglichst viel Eigenverantwortung übernehmen, damit die 2000-Watt-Bestimmungen eingehalten werden können. Die Verantwortung soll aber nicht nur beim Individuum liegen, viele fordern ein Regelwerk oder ein Manifest, damit alle zusammen am selben Strick ziehen. Ein Manifest wird bevorzugt, weil ein Regelwerk zu straff und streng scheint. Ebenfalls setzen sich alle für ein einfaches System ein, man will back to the roots, wo man beispielsweise im Winter wärmere Kleider anzieht, statt die Heizung hochzuschalten. Die Leute würden sich auch sicherer fühlen, wenn sie die Fenster, Rollläden etc. selber regulieren können. Zudem wäre die Rolle der Abwartin oder des Abwarts mit mehr Verantwortung verbunden; diese Person muss kommunikativ und sozial kompetent sein, um zwischen den Parteien zu vermitteln und die Anforderungen der 2000-Watt-Gesellschaft durchzusetzen. Es werden zudem möglichst viel begrünte Flächen gefordert.

Sei es bei einer Gemeinschaftsküche, bei einem gemeinsamen Aufenthaltsraum oder in Bezug auf ein Lebensmittellager für alle – es ist erstaunlich, wie wenig Luxus gefordert wird und auf wie viele Dinge die heutig Anwesenden verzichten würden, um 2000-Watt-Bestimmungen einzuhalten.

Der wichtigste Streitpunkt am heutigen Abend ist ein sogenanntes «Bonus/Malus-System»: Sollen Bewohnerinnen und Bewohner, welche die Bestimmungen einhalten, Belohnungen (in welcher Form auch immer) erhalten? Sollen die anderen bestraft werden? Christoph Schläppi findet, dass Strafen keine gute Lösung sei, weil es in erster Linie darum geht, zu lernen, wie man richtig und nachhaltig haushaltet.

Patrick Ernst fügt am Schluss an, dass es extrem erfreulich sei, wie viel Selbstverantwortung die Menschen übernehmen würden – allerdings müsse man dann auch das Risiko bedenken, dass dies viel Zeit, Geduld und Anstrengungen erfordert. Diese Aspekte bespricht man am besten beim nächsten Dialog, denn dann geht es um nachbarschaftliches Zusammenleben.